Handball Schweiz • 12.01.2023
Der Delegierte Felix Rätz ist neben den Schiedsrichtern Arthur Brunner und Morad Salah der dritte Schweizer, die an der angelaufenen Handball-WM im Einsatz steht. Auftritte an internationalen Turnieren ist der 63-Jährige gewöhnt, mittlerweile amtet er auch als Ausbildner und Lektor der IHF. Dennoch sagt er über jeden Wettbewerb: «Ich geniesse jede Minute.» Handball.ch hat mit ihm und einem weiteren Delegierten, Beat Nagel, über das besondere Amt gesprochen.
Heute Donnerstag steht der Schweizer Delegierte Felix Rätz an der Handball-Weltmeisterschaft in Schweden und Polen im Einsatz. Er überwacht dort die ersten Spiele im schwedischen Göteborg. Im Vorfeld führte handball.ch mit ihm und Beat Nagel, der ebenfalls als Delegierter auf internationaler Bühne amtet, ein Doppelgespräch über ihren Job, den nötigen Aufwand und wie der Schweizer Handball von ihren IHF- und EHF-Einsätzen profitiert. Ein Blick hinter die Kulissen und auf jene Funktionäre, die sich mit viel Herzblut der Weiterentwicklung des Schiedsrichterwesens verschrieben haben.
Felix Rätz, an der aktuellen Weltmeisterschaft in Polen und Schweden stehst du in Göteborg im Einsatz. Was sind deine konkreten Aufgaben?
Felix Rätz: Als Delegiertenchef oder Lektor bin ich sowohl inhaltlich als auch koordinativ für den Spielort in Göteborg zuständig. Ich organisiere alle Meetings mit den Schiedsrichtern und Delegierten vor Ort, lege fest, welche Schwerpunkte gesetzt werden und bin auch in der Weiterbildung der Delegierten und Lektoren involviert. Für mich hat die WM bereits drei Tage vor dem offiziellen Startschuss begonnen, davor lagen mehrere Wochen konzeptioneller Vorbereitung.
Kannst du das genauer erklären?
Felix Rätz: Für jeden Aus- oder Weiterbildungskurs erstellen wir im Vorfeld Lektionen und Präsentationen, in denen wir die allgemeinen Themen und Linie besprechen. Dabei kommt es immer darauf an, was sich im Handballsport gerade entwickelt oder diskutiert wird – wie zum Beispiel der «Long step» auf Aussen interpretiert und dementsprechend gepfiffen wird, was bei Stürmerfoul-Aktionen passiert oder welches Auftreten der Schiedsrichter angemessen sein sollte. In dieser Vorbereitungszeit legen wir also fest, welches die Problemfelder bei der Spielleitung sein könnten und welche Lösungen es dafür gibt. Da kommt mir mein didaktischer Hintergrund als Sportlehrer natürlich zugute – mir fällt es leicht, Lektionen zu kreieren und die Inhalte weiterzugeben.
Beat Nagel, als Schulleiter bringst du ebenfalls einen didaktischen Rucksack mit und bist auf europäischer Ebene in der EHF engagiert. Wie bist du zu dem Amt gekommen?
Beat Nagel: Ich habe als Schiedsrichter bis auf NLA-Stufe gepfiffen und recht früh junge Schiedsrichter begleitet. Als ich dann in der Schiedsrichterabteilung des SHV die Qualitätssicherung aufbauen und leiten sollte, schien es interessant, auch internationaler Delegierter zu werden. 2017 hatte ich meinen ersten Einsatz als Delegierter, und seit 2019 bin ich ebenfalls als Schiedsrichter-Verantwortlicher an europäischen Turnieren aufgeboten worden, letzten Sommer zum Beispiel an der U18-EM in Montenegro. Für mich persönlich ist das eine spektakuläre Karriere angesichts der Tatsache, dass ich nie internationaler Schiedsrichter wie Felix gewesen bin.
Ist ein Grossturnier einmal gestartet, habt ihr als Schiedsrichter-Verantwortliche beinahe einen 24-Stunden-Job vor Ort. Könnt ihr beschreiben, was dort abläuft?
Beat Nagel: Ist die allgemeine Linie einmal festgelegt und vor dem Turnierstart vermittelt, gehört es zu unseren Aufgaben, dass sie über die Spiele hinweg auch eingehalten wird. Das heisst, jeden Tag analysieren wir während zwei bis drei Stunden die Einsätze mit den Schiedsrichtern und Delegierten. Das kann manchmal herausfordernd sein, aber hier hilft uns sicher unsere Schweizer Konsens-Denken (lacht). Ein weiterer Vorteil ist, dass wir Tag für Tag mit den Schiedsrichter-Paaren zusammen sind. Nach den Meetings schaust du am Nachmittag und Abend die Spiele live in der Halle oder bist selbst im Einsatz. Und wenn du um 23 Uhr ins Hotelzimmer kommst, schaust du nochmal Matches auf dem PC und bereitest den nächsten Tag vor.
Der internationale Delegierte Felix Rätz (63) aus Reinach schaut auf eine über 40-jährige Funktionärskarriere zurück. Seit den neunziger Jahren steht er für den Internationalen Handball-Verband IHF im Einsatz. Seit 2007 leistet er als technischer Delegierte regelmässig weltweit Einsätze an grossen Turnieren und Wettbewerben, unter anderem an der letzten WM in Ägypten und an den Olympischen Sommerspielen. Zudem engagiert sich Rätz in der Ausbildung der Referees auf Schweizer und europäischer Ebene.
Felix Rätz: Die Analyse findet heute mit modernster Technik statt – da kann ich etwa mit einem Knopfdruck jeden Schiedsrichterentscheid markieren und später nachschauen. Ist der Entscheid richtig oder nicht? Oft ist nicht das Richtig oder Falsch entscheidend, sondern die Frage: Warum hast du so entschieden? Wir haben in dieser Rolle eine grosse Verantwortung, denn die Schiedsrichter-Beobachtung ist mitentscheidend, ob ein Paar für die nächste Turnierphase nominiert wird oder nicht.
Da drängt sich die Frage auf: Habt ihr dabei auch schon einmal die falsche Entscheidung getroffen?
Beat Nagel: Ja, das kann passieren. Im Sommer habe ich ein Schiedsrichter-Paar eingesetzt, das vorher sehr gut gepfiffen hatte, in dem Moment aber ausgebrannt war – ich hatte es einfach zu spät bemerkt. Für eine „zweite Chance“ ist an einer EM oder WM allerdings kein Platz, dafür sind die Einsätze einfach zu gross. Da braucht es stabile Paare, auf die man sich verlassen kann. Darum beobachten wir die Schiedsrichter auch mehrere Male im Vorfeld, um hundertprozentig überzeugt zu sein.
Felix Rätz: Dazu kommt, dass wir bereits im Vorfeld mitentscheiden, ob ein Schiedsrichterpaar überhaupt auf internationaler Ebene pfeifen darf oder nicht. Mir sind schon öfters Zweifel in einer Vorbereitung oder einem Kurs gekommen. Ich stelle mir dann immer die Frage: Was bringt es den Schiedsrichtern an internationalen Kursen, wenn ich sie der IHF als Referees vorschlage? Bin ich nach mehreren Spielen immer noch nicht überzeugt, dass sie WM-tauglich sind, werde ich diese der IHF auch nicht empfehlen. Und dieser Entscheid ist dann endgültig. Wir brauchen auf diesem Niveau Qualität und vor allem Stabilität, wie Beat richtig sagt. Denn es kommt nicht auf die Anzahl richtiger oder falscher Entscheide in einem Spiel an – pro Spiel passieren immer zwischen 15 und 20 Fehlentscheide. Sondern es kommt darauf an, wie die Schiedsrichter damit umgehen, ob sie die Fehler ausbalancieren und aus ihnen lernen können. Können sie diesem Druck nicht standhalten, sollten sie auch nicht international pfeifen.
Der Druck auf dem Spielfeld ist das eine, der zeitliche Aufwand, der in den Sport investiert wird, das andere. Wie geht ihr mit der Belastung um?
Felix Rätz: Ohne verständnisvolle Arbeitgeber und Familie wäre das nicht möglich, keine Frage. Zähle ich alle Einsätze zusammen, bin ich pro Jahr mehr als zwei Monate für die IHF unterwegs – das ist ein enormer Aufwand. Trotzdem erhältst du mindestens ebenso viel zurück. Ich freue mich, wieder an der WM zu sein, die Kollegen aus Argentinien oder Südkorea wiederzusehen, ich geniesse jede Minute. Der persönliche und kulturelle Austausch ist sehr bereichernd.
Beat Nagel: Wir sind Handball-Verrückte, wir spinnen alle etwas! Es gibt den Beruf und Familie, und es gibt die Handball-Leidenschaft. Aber auch wenn erstere unter der Leidenschaft leidet und jede freie Minute in den Sport investiert wird: Jeder Anlass ist ein Happening, an dem es Spass macht, teilzunehmen und andere Handball-Verrückte zu treffen.
Felix Rätz: Ich möchte aber auch unterstreichen: Im Gegensatz zu den Spielerinnen oder Spielern und dem Trainer-Staff, die Profis oder Halbprofis sind, sind die Unparteiischen alles Amateure, die ihre Ferien für einen Spiel- oder Turniereinsatz hergeben. Wir sehen regelmässig, wie der oder die Schiedsrichterin zwischen den Matches mit dem Lebenspartner oder dem Kind telefoniert. Gäbe es zuhause nicht den nötigen Rückhalt, könnte keiner von ihnen diese Leidenschaft so ausüben. Das sollte man nicht vergessen oder unterschätzen, und verdient grossen Respekt!
Beat Nagel (60) steht seit 2017 für den Europäischen Handball-Verband (EHF) als Delegierter im Einsatz. Seit zwei Jahren fungiert Nagel ebenfalls als Schiedsrichterchef an Nachwuchs-Turnieren, etwa im Sommer an der U18 EM in Montenegro. Seit Januar 2023 übernimmt er beim SHV in einem Teil-Pensum die Ausbildungsverantwortung im Bereich Schiedsrichter.
Zurück zu eurer Schlüsselfunktion im Handballsport: Eure internationalen Erfahrungen kommen auch den Unparteiischen in der Schweiz zugute. Wo seht ihr hier die grösste Wirkung?
Beat Nagel: Als ein konkretes Beispiel nenne ich den Förderkader, der in den letzten Jahren in der Schweiz aufgebaut worden ist. Das Gefäss ist aus den Erfahrungen, die wir international sammeln konnten, entstanden. Diese jungen Paare, die zurzeit noch in den unteren Ligen pfeifen, werden nun mit den Standard-Prozessen vertraut gemacht, so dass wir in naher Zukunft viel professioneller mit ihnen arbeiten können.
Felix Rätz: An jedem Einsatz bekommen wir neue Tendenzen mit, sehen, wie diese oder jene Regel umgesetzt wird. Wir versuchen dann, dies so schnell wie möglich auch in den Schweizer Handball einzubringen. Hier wäre als konkretes Beispiel der „Long step“, zu dem wir für unsere Schiedsrichter Hilfestellung gegeben haben.
Beat Nagel: Zusammengefasst ist unser Anliegen, die Schiedsrichterei weiterzuentwickeln. Dazu gehört auch, dass Prozesse professioneller werden, dass Schiedsrichter sich auch mehr technisches Handballwissen aneignen, dass sie sich über ihr Rollenverständnis klar werden.
Zum Abschluss: Welches Ereignis auf internationaler Bühne hat euch am meisten geprägt oder in Erinnerung geblieben?
Beat Nagel: Was ich in den letzten Jahren alles erleben durfte, hat mich unendlich bereichert. Neben dem unglaublich faszinierenden Sport, der geboten wird, sind es auch die Bekanntschaften, die einen prägen. Als ich in Montpellier ein Spiel begleitet habe, hatte ich einen ebenso Handball-Verrückten an meiner Seite, Pierre heisst er. Der holt einen am Flughafen ab, nimmt an allen Meetings teil und vergewissert sich, dass es spätabends noch Essen gibt. Und als ich ihm sagte, ich würde gerne noch das Meer sehen, organisierte er noch ein Auto und ist mit hingefahren.
Felix Rätz: Ich hatte in den vergangenen Jahren die grosse Ehre, an den Finalspielen der Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen teilzunehmen. Besonders geblieben ist mir aber der WM-Viertelfinal zwischen Ägypten und Dänemark 2021, in dem es erst in die Verlängerung und schliesslich bis zum Penalty-Schiessen kam. Der Match hat mich – im positiven Sinne – geprägt. Eigentlich willst du als Delegierter ja nicht auffallen. Aber als ich bei einer anderen Gelegenheit einen ägyptischen Nationalspieler wieder getroffen habe, hat er mich sofort darauf angesprochen. Das war schon eindrücklich.
Auch das Schweizer Schiedsrichterduo Arthur Brunner und Morad Salah kommt am Donnerstag am zweiten WM-Spieltag zum ersten Einsatz. Sie leiten das Spiel in der Gruppe A Spanien gegen Montenegro um 20.30 Uhr in Krakau (POL).
Der SHV ist der nationale Fachverband und das Kompetenzzentrum für den Handballsport in der Schweiz.
Der SHV ist Mitglied von Swiss Olympic sowie des Weltverbands IHF und der Europäischen Handball Föderation EHF.
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